An wen soll ich schreiben? An Gott?

Pressestimmen:


Reinhard Kannonier | DER STANDARD

Die Überlebensarbeiter

Zur Linzer Uraufführung von Karl Fallends "An wen soll ich schreiben? An Gott?"

Linz - Die Hochkonjunktur von Historikerkommissionen in Sachen NS-Zeit ebbt zwar langsam ab, doch wenn ihre Arbeitsmethoden und Resultate so subtil in die Poren der Öffentlichkeit transportiert werden wie zurzeit am Linzer Landestheater, bleibt die Vergangenheit nachhaltiger Bestandteil der Gegenwart.

 

Der Psychologe Karl Fallend führte im Rahmen der von der VOEST 1998 eingesetzten Kommission ein Oral-History-Projekt mit Zwangsarbeitern aus der Ukraine, der ehemaligen Tschechoslowakei, Moldawien und Italien durch, die zwischen 1940 und 1945 in die damaligen Hermann-Göring-Werke verschleppt worden waren. Aus den je stundenlangen Gesprächen formte er mit Unterstützung der Dramaturgin Brigitte Heusinger ein konzentriertes Destillat, das dennoch einen breiten narrativen und emotionalen Kosmos aufbricht. Unverändert montierte Interviewteile bilden demnach den Stoff, aus dem die Albträume, Demütigungen, Liebe, Schläge, der Ärger über ein  0 : 11 verlorenes Fußballspiel gegen die SS, eine kleine Dialektkunde oder bürokratische Abläufe in den Erinnerungsstrom gewebt werden: behutsam, ohne  erhobenen Zeigefinger, mit sporadisch aufblitzendem Humor, mit allen Widersprüchen: "Das Lager ist meine Heimat", sagt einer, der von den Nazis und dann von den Stalinisten inhaftiert wurde und der auch nicht mehr in der Lage ist, aus seinem Erinnerungskäfig auszubrechen. Einziger Einwand: An einigen Stellen wäre eine Straffung gut gewesen.

 

Die Figuren sprechen in teils professionalisierten, teils unsicher suchenden Einzelstimmen. Es sind Typen mit gebrochenen Lebensentwürfen und unterschiedlichen, meist in sich selbst gefangenen Reaktionen darauf. An bestimmten Punkten verschmelzen sie allerdings zum Kollektiv. Etwa bei der Intonation eines Liedes. Oder dann, wenn die Mittagssirene kurz aufheult. Dann folgt eine Reaktion in Reih und Glied.

 

Es ist dem Regisseur Nikolaus Büchel weitgehend gelungen, die gefährliche Gratwanderung zwischen Dokumentation und Atmosphäre, zwischen Abbild und Stilisierung, zwischen Erzählung und Emotionen durch den Erinnerungsraum aus den 40er-Jahren, den er ebenfalls konzipierte, zu steuern. Also so etwas wie eine Dramaturgie mit gezielt eingesetzten Kulminationspunkten zu konstruieren. Mit großer Unterstützung übrigens durch Peter Androsch, dessen grandiose musikalische Kommentare von Bassklarinette (Christian Gaisböck), Horn (Florian Madleitner) und Klavier (Nebojsa Krulanovic) direkt auf der Bühne die Atmosphäre verdichten. Dort sitzt auch die Souffleuse Angela Smejkal und hilft beim Erinnern.

 

Ausgezeichnet sind die schauspielerischen (und sängerischen!) Leistungen von Sigrun Schneggenburger, Vasilij Sotke, Gerhard Brössner, Karl Sibelius und Daniela Wagner. Sie tragen den Text sehr genau und überzeugend durch eineinhalb Stunden.

 

DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 1. 2002