Wie Messer und Salbe


Zum 150. Geburtstag von Alfred Adler hat Alexander Kluy eine kenntnisreiche Biografie über den in Wien geborenen Psychologen verfasst, dessen Wortprägung „Minderwertigkeitskomplex“ heute noch viele Laien kennen.

In: Presse-Spectrum. 1. Februar 2020.


Die hymnische Zeile: „Heimat großer Töchter und Söhne“ wäre doch ein Fingerzeig, an welche Persönlichkeiten hierzulande zu erinnern, ihre Taten und Ideen mehr im öffentlichen Diskurs zu integrieren wären. Mitnichten. Die Vertriebenen bleiben vergessen, auch wenn sie weltweit ihre Spuren hinterlassen haben. Alle Jubiläumsjahre tauchen sie auf, und das Land weiß nicht so recht umzugehen mit den Besungenen.

 

Es ist wieder so weit: Vor 150 Jahren, am 7. Februar 1870, kam in Wien Alfred Adler zur Welt, der mit der von ihm begründeten Individualpsychologie internationale Anerkennung fand. Rechtzeitig zum Jubiläum hat Alexander Kluy eine kenntnisreiche Biographie über den Arzt und Psychologen vorgelegt, der zeitlebens damit zu kämpfen hatte, aus dem Schatten seines Lehrers Sigmund Freud herauszutreten. Kluy erzählt spannend über das Leben und Werk eines rührigen Wissenschaftlers und lässt den zeit- und wissenschaftshistorischen Kontext nicht zu kurz kommen. Die Lektüre offenbart: der große Sohn Alfred Adler hätte zu manch aktuellen Diskussionen einiges beizutragen. Alfred Adler stammte aus einer Wiener jüdisch-assimilierten Kaufmannsfamilie. In der Schule mittelmäßig, entdeckte „der 1,65 Meter messende“ Medizinstudent die Sexualwissenschaft, die Bedeutung der Sozialmedizin und lernte nach Studienabschluss die aus wohlhabenden Verhältnissen stammende russische Emigrantin Raissa Epstein kennen. Die Liaison mit dieser selbstbewussten, politisch radikalen Frau, der späteren Mutter ihrer vier Kinder, gestaltete sich zeitlebens konfliktreich. Durch sie kam Adler in Wien mit der russischen Emigrantenszene in Kontakt und man pflegte die Freundschaft mit Leo Trotzki.

 

Von großer Bedeutung war die Begegnung mit Sigmund Freud. Adler zählte 1902 zu den Gründungsmitgliedern der sogenannten „Mittwochs-Gesellschaft“, in der Freud seine angefeindeten Theorien „in einer Art Katakombenromantik“ zur Diskussion stellte. In diesem Zirkel hatte Adler von Beginn an eine zentrale Position, wobei er zusehends eigene Ideen verfocht: So ersetzte er Freuds „Aggressionstrieb“ durch „männlichen Protest“; sah nicht die kindliche Sexualentwicklung, sondern den Gefühlskomplex der Minderwertigkeit als Ursprung der Neurose und Adler bewegte sich optimistisch auf eine „Ich-Psychologie“ zu, während der Kulturpessimist Freud überzeugt war, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei. Selbst in der therapeutischen Methode – so die kurzzeitige Wegbegleiterin Lou Andreas-Salomé – unterscheide sich Freud von Adler wie Messer und Salbe. Der Bruch der beiden „Vater-Figuren“ im Jahre 1911 war daher unvermeidlich und fiel enorm emotional aus. Man hat den Eindruck, dass Freudianer und Adlerianer bis heute diese Trennung beleben. Vereint sind sie hingegen in der steten universitären Ablehnung. Freud wie Adler hofften vergebens auf eine Anerkennung durch die Alma Mater. Von Julius Wagner-Jauregg persönlich wurde Adlers Habilitation vernichtend beurteilt und 1915 von einem 25-köpfigen Kollegium einstimmig abgelehnt. Eine lebenslange Kränkung.

 

Nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt. Freuds Psychoanalyse war zwar in vieler Munde, aber die Wiener Stadtverwaltung sah in Alfred Adler, der sich vermehrt mit Fragen der Erziehung auseinandersetzte, das „Gemeinschaftsgefühl“, den „Lebensstil“ versus dem Machtstreben in den Vordergrund rückte, als geeigneten Kooperationspartner. Adlers soziale „Individualpsychologie“ als „Gebrauchspsychologie“ schien maßgeschneidert für die geplante Schulreform. Zudem waren Adlers Freunde wirkmächtige Brückenbauer: Aline Furtmüller, eine der ersten Wiener Gemeinderätinnen und ihr Mann Carl Furtmüller, ein enger Mitarbeiter von Adler und des Wiener Stadtschulrats Otto Glöckel. Dermaßen befördert gründete Adler Erziehungsberatungsstellen; wurde zum Professor am Pädagogischen Institut der Stadt Wien berufen; gründete mit Mitstreitern Lehrerarbeitsgemeinschaften, eine individualpsychologische Versuchsschule und wurde schließlich 1930 zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt.

 

Damit nicht genug. Adler erkannte früh die politischen Gewitterwolken und das ausländische Interesse an seinen modernen „Ansichten über Erziehung, Förderung und Forderung, Emanzipation und Selbstverwirklichung, Ich-Entfaltung und Arbeit für ein besseres, gemeinschaftlich orientiertes Ich.“ Ansichten, die Adler in seinem bekanntesten Buch „Menschenkenntnis“ (1927) zusammengefasst hatte.

 

Beklemmend liest sich Kluys Beschreibung Adlers als rastlosen Handelsreisenden in eigener Sache. Bereits Mitte der 1920er Jahre streckte Adler seine Fühler nach Amerika und verbrachte ab 1928 regelmäßig sechs Monate eines Jahres in den USA. Er raste von Anerkennung zu Anerkennung. Nach New York, wo er eine Gastprofessur erhielt, nach Ohio, wo ihm ein Ehrendoktorat verliehen wurde, nach Cleveland, Los Angeles und zurück nach New York, wo er sich endlich niederlassen wollte. Mehrere Vorträge täglich waren keine Seltenheit und seine Bücher verkauften sich millionenfach.

 

Nur – auch das weiß Alexander Kluy festzuhalten – die wissenschaftliche Sorgfalt seiner Schriften begann zugunsten eines plakativen Pragmatismus zu leiden. Ebensolche Rastlosigkeit prägte auch die Beziehungen zu seiner Frau, seinen Kindern und Kollegen, die allesamt mit 1933/34 abrupt gefährdet waren. Vieler seiner Gefolgsleute waren allein durch die jüdische Herkunft und die enge Verknüpfung mit der Sozialdemokratie Verbot und Verfolgung ausgesetzt. Raissa Adler, als Parteigängerin Leo Trotzkis, umso mehr. Ebenso ihre älteste Tochter, Valentine, die den politischen Radikalismus der Mutter teilte. Sie wurde Ende Jänner 1937 vom stalinistischen Geheimdienst in Moskau verhaftet. Der besorgte Vater musste nicht mehr erleben, was er vorausahnte: Valentine Adler kam 1942 in einem Gulag ums Leben.

 

Alfred Adler war zum Zeitpunkt der Verhaftung seiner Tochter wieder auf einer Vortragsreise in Europa und starb am 28. Mai 1937 in Aberdeen an Herzversagen. Seine Frau Raissa überlebte ihn um 25 Jahre.

 

 

Alexander Kluy

Alfred Adler

Die Vermessung der menschlichen Psyche – Biografie.

432 S., geb., € 28.80 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)